Ruth Beckermann
WALDHEIM – EIN POSTPRODUKTIONSFILM
Notizen aus dem Schneideraum
In a global marketplace we need to recombine the culture, to neutralize the dominant meaning, to pervert, to parody, to rescue the lost. (aus dem Mission Statement des Found Footage Magazine)
Ich sichte Waldheim footage bei BBC World Wide in London, White City. Ich kann mich nicht konzentrieren, muss erst den Zukunftsschock verdauen, der mich hier überfiel: Auf drei Stockwerken in einem architektonisch bemerkenswerten Rundbau sitzen Menschen mit Kopfhörern an langen Tischen nebeneinander, jeder vor seinem Bildschirm. Kein Buch, kein Papier weit und breit. Es hat den Anschein, als gäbe es nur mehr das Wissen der Welt, das im digitalen Archiv gespeichert ist. Ich kam, um Bilder aus längst vergangenen Zeiten zu sehen. Die freundlichen Mitarbeiter der BBC, die von einer bei Getty Images in einem anderen Teil Londons sitzenden Archivarin von meinen Wünschen informiert wurden und die Bänder aus einem weit entfernten Depot für mich heran schaffen ließen, wussten nicht so recht, wohin mit mir und der hardware in Form eines Abspielgeräts und eines kleinen dicken Fernsehers. Nun sitze ich in einem winzigen Kammerl, dem einzigen Ort mit verschließbarer Türe, wo ein Mensch ohne Kopfhörer tönende Bilder ansehen kann, die noch dazu auf großen Kassetten gespeichert sind, welche bei jedem Einlegen und Auswerfen ein lautes „Tatam“ von sich geben. Was ich auswähle, wird digitalisiert und somit Teil des globalen digitalen Archivs. Auch so funktioniert Erinnerung.
Schon dreißig Jahre ist es her. Erst dreißig Jahre. 1986 war ich mit einem der ersten tragbaren Videogeräte bei Waldheim-Wahlveranstaltungen unterwegs gewesen, umgehängt einen Rekorder, in dem sich Magnetspulen drehten und der mit einem Kabel mit der Kamera verbunden war. Bei der Abschlussveranstaltung am Stephansplatz kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen den Anhängern des Kandidaten und einer kleinen Gruppe von Anti-Waldheim Aktivisten, wobei ein älterer Mann einen wütenden Boxer auf meinem Rekorder landete. Die Bänder überlebten bis ein Produzent sie entsorgte und allein meine VHS-Überspielungen übrig blieben. Fast dreißig Jahre später fand ich sie wieder. Auch so bahnt sich Erinnerung ihren Weg. Das dreistündige Material schockierte mich, obwohl ich es selbst gedreht hatte. Es zeigt die Wut, den Hass und das Elend in den Gesichtern der Menschen, die mehrheitlich der sog. Kriegsgeneration angehörten. Es zeigt, wie leicht Emotionen gegen Andere geschürt werden können und sich in aufgeheizter Stimmung Luft machen.
Die Aufnahmen sind der Ausgangspunkt für einen Kompilationsfilm über Waldheim und die Kunst des Verleugnens. Für einen Film, den ich eigentlich nicht machen wollte, weil ich ja selbst mitten drin war und Veteranen-Erzählungen nicht mag. Doch die Jungen verlangen nach den Geschichten, die man selbst erlebt hat. Nach Geschichte. Nun gut, das wird also mein erster Auftragsfilm, dachte ich. Doch wie lautet der Auftrag, was interessiert heute an der Affäre um einen verstockten ehemaligen Wehrmachtsoldaten, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Österreich und international eine Bilderbuchkarriere durchlief, bis hinauf zum Generalsekretär der UNO ins 38. Stockwerk des Glaspalasts mit Blick auf den Hudson?
Was bedeutete die Waldheim-Geschichte damals für mich selbst? Zum ersten Mal erlebte ich offenen Antisemitismus. Das war beängstigend und befreiend zugleich, weil der Judenhass endlich offensichtlich wurde und ich darauf reagieren konnte. Allzu lange hatte ich die Gemeinheiten von Jung und Alt allzu oft runter geschluckt, um mich in der Illusion zu wiegen, dazu zu gehören. Vielleicht soll es in dem Film ein persönliches Kapitel darüber geben, wie man sich als exotisches Objekt fühlte, das 1986 als Hochverräterin beschimpft wird und 1988 im sog. Bedenkjahr als Beweisstück für die Toleranz der anderen auf einem Podium sitzt.
1986 brach das Tabu endlich auf, als der Präsidentschaftskandidat Kurt Waldheim ganz unschuldig meinte, er habe im Krieg nur seine Pflicht getan – und damit einen Sturm im österreichischen Lügenkonsens entfachte. Denn, wenn er seine Soldatenpflicht in der Wehrmacht getan hatte und nicht als überfallener Österreicher in diese hinein gezwungen worden war, dann konnte mit der Opferstory der 2. Republik irgendwas nicht stimmen. Dank Waldheim riss der Heimatfilm. Eine aufregende Phase begann: Zuerst gab es fast täglich neue Meldungen und Enthüllungen über die Vergangenheit des Kandidaten. Die Welt blickte auf Österreich und fragte sich zunehmend, warum sie sich so lange täuschen ließ. Wien wurde plötzlich wieder Weltstadt des Antisemitismus. Denn die mehrheitliche Reaktion der Wähler hieß „Jetzt erst recht“ und „Wir wählen wen wir wollen“. Die sog. Ostküste wurde beschimpft. Waldheim wurde gewählt.
Womit keiner der Zündler vom Schlage der ÖVP-Politiker Alois Mock und Michael Graff gerechnet hatten, die zum Teil bewusst Antisemitismus als Wahlhelfer einsetzten, zum Teil nichts gegen diesen Nebeneffekt einzuwenden hatten, war, dass der Präsident wegen seiner Zugehörigkeit zur Heeresgruppe E vom US-Justizministerium auf die watchlist gesetzt wurde und nicht in die USA einreisen durfte, was dazu führte, dass er von keinem Staat der westlichen Welt eingeladen wurde und Österreich überhaupt fünf Jahre lang ziemlich isoliert dastand. Waldheim, der während des Wahlkampfs und danach auf neue Fakten und Vorhaltungen, er habe zwei wesentliche Jahre seines Wehrdienstes auf dem Balkan und in Griechenland verschwiegen, immer nur scheibchenweise reagierte, ist sozusagen der passive Held des Films. Eine individuelle Gestalt in ihrer Zeit und doch ein typisch österreichischer Mann ohne Eigenschaften.
Dreißig Jahre später stellten sich viele Fragen:
Wie kam es, dass der Wahlkampf Kurt Waldheims zu einem internationalen Skandal wurde? Wie wirkt dieser historische Moment weiter, als die Lüge von „Österreich als erstem Opfer“ in sich zusammen fiel, was einerseits zu befreiender Klarheit führte, andererseits der Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit eine neue Wende gab. Wieso wurde ein Nixon zum Rücktritt gezwungen, während in Österreich so gut wie nie jemand abtritt? Warum regte den Jüdischen Weltkongress just die Person Waldheim so auf? Und wie manifestiert sich der typisch österreichische von Neid und Ressentiment geprägte Antisemitismus, der bereits 1938 die deutschen Nazis in Erstaunen versetzte und der nach wie vor abrufbar scheint bzw. sich in Form von Rassismus Luft verschafft.
Als ich im Frühjahr 2016 mit der Materialsuche begann, verwirrte mich sehr schnell die für mich neue Arbeit mit bereits existierendem Material, das noch dazu aus TV-Anstalten stammt. Bei selbst gedrehtem Material ist es schwierig, sich von der Drehsituation und den eigenen Erinnerungen zu lösen, um eine distanzierte Haltung zu finden. (Auch darum benötigt man einen Cutter, der nicht dabei war!) Archivmaterial und besonders TV-Material lässt vorerst mal kalt. Kalte Erinnerungsschnipsel, die seit der digitalen Revolution immer kürzer werden: Text-Messages statt Briefen, Clips statt Filmstreifen. Ich benötige Gespräche mit Archivaren und den Geruch der realen Orte, wo das Material zu sichten ist, um eine Beziehung zu diesem herzustellen. Und ich muss mich davor schützen, nicht in der Fülle von Banalitäten unterzugehen, mit denen das Fernsehen seine Sendezeit füllt, d.h. rasch entscheiden, was in den Kübel des Vergessens fallen soll, wie zum Beispiel das heute nur beschränkt interessante Hickhack zwischen ÖVP und SPÖ, wann und durch wen die Mitgliedschaft Waldheims bei der SA an die Öffentlichkeit drang. Dreht man selbst, dann macht man sich sein eigenes Bild von der Welt. Das gefundene Material zeigt ein Bild, das jemand anderer gemacht hat und wieder jemand anderer aufbewahrt hat, indem er es in eine Reportage oder einen Nachrichten-Beitrag einfügte. Wäre es eine bestimmte Person, also das Material eines bestimmten Filmers, ob Profi oder Amateur, so könnte ich seinen subjektiven Blick suchen und interpretieren. Hier jedoch handelt es sich um viele, zum Teil unmotivierte, gelangweilte, zum Teil suchende, ernsthafte Kameraleute und Journalisten, die den verschiedenen TV-Cuttern ihr Material lieferten. Und schließlich musste der gestaltete Beitrag in die Linie des Senders passen, in Österreich also in diejenige des staatlichen ORF. Was mir begegnet, ist der Standpunkt und Blick des Mediums TV in seiner nationalen Ausprägung.
Thomas Elsässer spricht in seinem Text zu „Recycled Cinema“ über die Ethik der Aneignung. Es sei notwendig, dass wir uns die Bilder, die anderen gehörten, in einem Prozess der Postproduktion aneignen, die Frage sei allerdings, wie das geschieht. Waldheim ist ein reiner Postproduktionsfilm. Ich montiere einen Film aus TV-Material, aber gegen die nivellierende, zensurierende oberflächlich illustrierende Weltsicht des TV. Wie ist das zu möglich? Wie verhalte ich mich zu dem Archivmaterial? Zu den Auslassungen? Es gibt archivtechnisch begründete Lücken. Rohmaterial wird bei keinem Sender aufbewahrt. Beim ORF werden lediglich die zugespielten Sendebänder archiviert, nicht jedoch die Ansagen der Sprecher im Nachrichtenstudio. Zum Glück schleichen sich auch in die Regeln der digitalen Welt Fehler ein, so dass dann und wann ein Moderator bei seiner Arbeit zu sehen ist, was aufschlussreiche Auskünfte über Geschlechterpräsenz, Mode, Sprechweise und Graphik der Zeit gibt. Und es gibt inhaltliche Lücken. So wurde der Widerstand von Teilen einer sich gerade bildenden Zivilgesellschaft gegen Waldheim kaum im ORF reflektiert. Die Gründung des Republikanischen Clubs „Neues Österreich“ wurde verschwiegen, prominent besetzte Demonstrationen in Begleitung des von Alfred Hrdlicka nach einer Idee von Kuno Knöbl geschaffenen Holzpferdes nur in Sekundenlänge gesendet. Elfriede Jelinek als Rednerin bei Kundgebungen ist kein einziges Mal zu sehen. Lediglich in den „Club 2“ wurde dann und wann eine Alibifigur aus der Riege kritischer Zeitgenossen eingeladen, wie zum Beispiel Erwin Ringel, Doron Rabinovici, Peter Turrini und Daniel Charim. Erst 1988 wurde ausführlich über die Mahnwache am Stephansplatz berichtet. Inzwischen hatte ein deutlich sichtbarer Lernprozess unter den Journalisten statt gefunden, die sich einerseits über Waldheims Verstocktheit ärgerten, andererseits aber auch begannen, die westlichen Medien nicht allein als Feinde zu begreifen, sondern ihre Argumente nachzuvollziehen. Besonders gut sichtbar ist die Veränderung Peter Rabls von seiner Einleitung eines Inlandsreports, in der er den Jüdischen Weltkongress herablassend als „kleine Privatorganisation mit hochtrabendem Namen“ bezeichnet bis zu einem sehr kritischen Interview mit Waldheim zwei Jahre später. Die aufgebrachte Volksgemeinschaft mit ihren Leitmedien „Kronen-Zeitung“ und „Presse“ hatte sich weder beruhigt noch geändert, wie sich unter anderem bei der Premiere von Thomas Bernhards „Heldenplatz“ zeigte, wo Wutbürger eine Fuhre Mist vor dem Burgtheater abluden.
Während ich im ORF-Archiv vergraben bin, wird in Österreich wieder mal ein Präsident gewählt. Der Kandidat der FPÖ Norbert Hofer bekommt im ersten Wahlgang am 24. April 2016 34 % der Stimmen. Der Grüne Alexander van der Bellen erreicht Platz zwei. Die Stichwahl gewann van der Bellen knapp. Die Kandidaten der ehemaligen Großparteien fallen aus dem Rennen. Das Zweiparteiensystem der 2. Republik zerbröselt zugunsten der Rechten. Verändert Hofers Erfolg die Perspektive auf die Waldheim-Affäre? Bei Waldheim ging es um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um einen schon längst notwendigen Perspektivenwechsel, der schließlich zu dem offiziellen Bekenntnis zur Mitverantwortung Österreichs am Nationalsozialismus führte. Die Ideologie Hofers ist die Kehrseite der Medaille. Er nimmt Elemente aus der NS-Vergangenheit, um die Zukunft zu gestalten. 1986 begann die Erosion der Parteigebundenheit, die sich jetzt deutlich zeigt. Aus Solidarität mit dem ehemaligen Soldaten wählte die Kriegsgeneration quer durch die Parteien Waldheim. Und die sich unverstanden und benachteiligt fühlenden Nachgeborenen ebenso. Nicht zufällig begann der Aufstieg der FPÖ mit Haider in eben jenem Frühjahr 1986 und hält bis heute an. Nicht weil er ein Nazi ist, wird ein Hofer gewählt, sondern weil es viele nicht stört, dass er einer ist.
Angeblich dauert es hundert Jahre bis die Ereignisse Geschichte werden. Ich jedenfalls kann in Österreich anscheinend keinen Film machen, ohne von Nazirülpsern eingeholt zu werden. Das erste Mal, 1986 arbeitete ich an einem Film über jüdische Identität. Die Waldheim-Affäre brach aus und die Vergangenheit herein, als „Die papierene Brücke“ fast fertig geschnitten war. Einige Szenen aus meinem selbst gedrehten Material fanden noch Platz in dem Film. Das zweite Mal – 1999 – filmte ich meine Straße. Da brach die schwarz-blaue Regierung herein, wieder wurde die NS-Vergangenheit aufgewühlt und in die Diskussionen im Kaffeehaus in meiner Straße und somit in meinen Film „homemad(e)“ gespült. Jetzt mache ich einen Film über die versuchte Bewältigung jener Vergangenheit, aber nein, Hofer droht, gefolgt von Strache. Wie damals geht es um einen Kampf zwischen Rationalem und Irrationalem. Damals kursierten Verschwörungstheorien über den Einfluss der jüdischen Lobby, heute über die Verschwörung des globalen „Systems“ gegen ihr Opfer, die in der Heimaterde verwurzelte FPÖ, die bereit stünde, die Volksgemeinschaft gegen die barbarischen Ausländerhorden zu verteidigen.
Befragt man das Material lange genug, dann beginnt es langsam zu antworten. Nachdem Dieter Pichler und ich ca. 150 Stunden österreichisches und internationales Material gesichtet und auf sechs Stunden reduziert hatten, verschob sich der Fokus meiner Interessen auf Themen, die aus dem historischen Material selbst heraus zu lesen sind. Die Magie des Schneideraums tut auch diesmal ihre Wirkung und überrumpelt alle Papierkonzepte und Hypothesen mit überraschenden Erkenntnissen. Das „optische Unbewusste“ scheint zum Vorschein zu kommen, das letztendlich weder dem Macher noch dem Betrachter zugeschrieben werden kann, sondern zum Medium selbst gehört. Wiederholen und durcharbeiten - so definierte Freud den Weg der Analyse. Auf der Couch mag sie Jahre dauern, im Schneideraum tun Abgeschlossenheit und Dunkelheit ihre Wirkung in intensiven Monaten. Auch bei der Montage geht es jedoch ums Loslassen, das heißt einerseits um den Abschied vom ursprünglichen Konzept, und mehr noch darum, Intuition und Instinkt zuzulassen, um diese danach intellektuell zu analysieren. Schließlich liegt eine Hauptattraktion der audiovisuellen Medien in der Oberfläche der Gestik und Mimik, der Stofflichkeit der Dekors und Moden. Aus der wiederholten Betrachtung der Oberfläche können neue Erkenntnisse entstehen oder alte ins Blickfeld rücken. Zum Beispiel: It’s a man’s world. Alle wesentlichen Protagonisten der Waldheim-Affäre waren Männer. Väter und Söhne. Da ist der biologische Sohn Waldheims Gerhard, der sich von seiner Arbeit karenzieren lässt, um den Vater bei einem Hearing vor dem US-Kongress und in den amerikanischen Medien zu verteidigen. In der Waldheimat spalten sich die großen Söhne in zwei Gruppen, die erstmals ihre Haltung zu den Vätern laut kundtun: Da Jörg Haider, der die Kriegsgeneration verteidigt, dort Peter Kreisky, der sie anklagt, die 2. Republik auf einer Lüge aufgebaut zu haben. Auch die Ankläger in New York sind Söhne. Söhne der verfolgten Juden. Sie verteidigen die Erinnerung an ihre Väter und kritisieren gleichzeitig die amerikanischen Juden der Kriegsgeneration, die zu wenig für die verfolgten europäischen Juden getan hätten. Aus heutiger Sicht stellt sich die Waldheim-Affäre als Krieg um die Erinnerung dar.
Der Film wird die Jahre 1986–1988 umspannen, vom Beginn der Affäre bis zum Bericht der Historikerkommission, die Waldheim zwar von persönlicher, nicht jedoch von moralischer Schuld freisprach, indem sie ihm „konsultative Unterstützung von Unterdrückungsmaßnahmen“ nachwies. Er soll das individuelle und kollektive Bewusstsein zusammen führen, um zu zeigen, wie sich tiefer liegende Bewusstseinsschichten ihren Weg bahnen. Dies geschah durch regelmäßige Ausbrüche eklatanter NS-Kontinuitäten wie den Affären Borodajkewycz (1965), Kreisky-Peter-Wiesenthal (1975) oder Frischenschlager-Reder (1985), die zu Skandalen ohne längerfristige Folgen führten, weil die Zeit noch nicht reif für einen Paradigmenwechsel war.
Fernsehsender werfen einen nationalen Blick auf die Ereignisse. 2016 gestaltete der ORF eine Sendung zu der Affäre, welche aus rein österreichischer Sicht zurück blickt. Kein Protagonist der damaligen internationalen Gegenseite kam zu Wort, wohl aber, dem Zeitgeist geschuldet, einige einheimische Waldheim-Kritiker von damals. Britische, US-amerikanische, französische und andere Beiträge zu dem Thema unterscheiden sich naturgemäß stark von den österreichischen, aber auch von einander. Nicht allein in den moralischen Standards, sondern auch in der Präsentation durch Korrespondenten und Moderatoren. Auch wenn alle sich über die 122 Blaskapellen, die in Waldheims Wahlkampf eingesetzt waren, amüsieren, sind die Unterschiede in den jeweiligen Referenzen bezeichnend: Die Briten zitieren gerne Graham Greens Film „Der dritte Mann“, die Franzosen mögen Freud und die Amerikaner haben keine Zeit für Zitate.
Im September 2016 schreibt der Economist unter dem Titel „Art of the Lie“: „Post-truth politics is more than just an invention of whingering elites who have been outflanked. The term picks out the heart of what is new: that truth is not falsified, or contested, but of secondary importance. Once the purpose of political lying was to create a false view of the world. The lies of M Trump do not work like that. They are not intended to convince the elites, whom their target voters neither trust nor like, but to reinforce prejudices.“
Ist „post-truth“ oder postfaktische Politik wirklich neu? Bedienten nicht Waldheim, Mock et.al. auf ihre Weise mit der sturen Weigerung, Dokumente als solche zu akzeptieren, der permanenten Wiederholung, wie „anständig“ sich der Kandidat im Krieg verhalten hätte, mit dem Wecken von Ressentiments gegen die angebliche Macht der Juden und dem Spiel mit dem Antiamerikanismus die unterdrückte diffuse Wut seiner Wähler? Es ging nicht um die Wahrheit, d.h. um die Erörterung der Kriegszeit des Oberleutnants Waldheim, sondern um die gefühlte Wahrheit, von den ehemaligen Siegern gedemütigt worden zu sein. Bei einer Straßenbefragung sagt ein junger Mann: „Unser Pech war, dass wir den Krieg verloren haben“. Voller Genugtuung, im Recht zu sein, da ja diesmal in der verqueren Logik dieser Menschen die Gegenseite den Krieg begonnen hätte, indem sie vierzig Jahre alte Dokumente ausgrub, suhlte sich die Mehrheit der Bevölkerung in einem wohligen Gemeinschaftsbad und zeigte mit Fingern auf die Verräter. Dünn ist die Schicht, die sich Zivilisation nennt. Auch das zeigte sich damals. Ganz plötzlich, von heut auf morgen, war sie weg. Und nackt starrten die Fratzen der Boshaften, der Wütenden uns an. Vielleicht war der Waldheim-Wahlkampf postfaktische Avantgarde.
Was sich damals lokal begrenzt im ach so rückschrittlichen Österreich zutrug, hat seinen Globalisierungsschub erlebt. Die damals zumindest diffus definierte Wut auf „die Ostküste“, die Amerikaner und den Westen richtet sich jetzt gegen den Großteil der Erdbewohner: Gegen die Reichen und (daher) den Fremden Wohlgesinnten ebenso wie gegen alle, die nicht so sind und so leben wie „wir“. Dazwischen zerrieben werden die Armen und die Verfolgten und Sonntagsreden sind ebenso schal wie damals, als diejenigen, die sich mit dem Antisemitismus ins Bett legten, um die Wahl zu gewinnen, nicht aufhörten vor eben jenem zu warnen und zu betonen, wie sehr doch „unsere jüdischen Mitbürger“ zu „uns Österreichern“ gehörten. Waldheim – der Ahnherr der Trump, Le Pen, Wilders und Hofer. Ob Politik der Gefühle, wie Josef Haslinger damals seine Analyse der österreichischen Zustände nannte oder Post-Truth - die Lüge hat Hochkonjunktur.
17. Oktober 2016
WALDHEIM – EIN POSTPRODUKTIONSFILM
Notizen aus dem Schneideraum
In a global marketplace we need to recombine the culture, to neutralize the dominant meaning, to pervert, to parody, to rescue the lost. (aus dem Mission Statement des Found Footage Magazine)
Ich sichte Waldheim footage bei BBC World Wide in London, White City. Ich kann mich nicht konzentrieren, muss erst den Zukunftsschock verdauen, der mich hier überfiel: Auf drei Stockwerken in einem architektonisch bemerkenswerten Rundbau sitzen Menschen mit Kopfhörern an langen Tischen nebeneinander, jeder vor seinem Bildschirm. Kein Buch, kein Papier weit und breit. Es hat den Anschein, als gäbe es nur mehr das Wissen der Welt, das im digitalen Archiv gespeichert ist. Ich kam, um Bilder aus längst vergangenen Zeiten zu sehen. Die freundlichen Mitarbeiter der BBC, die von einer bei Getty Images in einem anderen Teil Londons sitzenden Archivarin von meinen Wünschen informiert wurden und die Bänder aus einem weit entfernten Depot für mich heran schaffen ließen, wussten nicht so recht, wohin mit mir und der hardware in Form eines Abspielgeräts und eines kleinen dicken Fernsehers. Nun sitze ich in einem winzigen Kammerl, dem einzigen Ort mit verschließbarer Türe, wo ein Mensch ohne Kopfhörer tönende Bilder ansehen kann, die noch dazu auf großen Kassetten gespeichert sind, welche bei jedem Einlegen und Auswerfen ein lautes „Tatam“ von sich geben. Was ich auswähle, wird digitalisiert und somit Teil des globalen digitalen Archivs. Auch so funktioniert Erinnerung.
Schon dreißig Jahre ist es her. Erst dreißig Jahre. 1986 war ich mit einem der ersten tragbaren Videogeräte bei Waldheim-Wahlveranstaltungen unterwegs gewesen, umgehängt einen Rekorder, in dem sich Magnetspulen drehten und der mit einem Kabel mit der Kamera verbunden war. Bei der Abschlussveranstaltung am Stephansplatz kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen den Anhängern des Kandidaten und einer kleinen Gruppe von Anti-Waldheim Aktivisten, wobei ein älterer Mann einen wütenden Boxer auf meinem Rekorder landete. Die Bänder überlebten bis ein Produzent sie entsorgte und allein meine VHS-Überspielungen übrig blieben. Fast dreißig Jahre später fand ich sie wieder. Auch so bahnt sich Erinnerung ihren Weg. Das dreistündige Material schockierte mich, obwohl ich es selbst gedreht hatte. Es zeigt die Wut, den Hass und das Elend in den Gesichtern der Menschen, die mehrheitlich der sog. Kriegsgeneration angehörten. Es zeigt, wie leicht Emotionen gegen Andere geschürt werden können und sich in aufgeheizter Stimmung Luft machen.
Die Aufnahmen sind der Ausgangspunkt für einen Kompilationsfilm über Waldheim und die Kunst des Verleugnens. Für einen Film, den ich eigentlich nicht machen wollte, weil ich ja selbst mitten drin war und Veteranen-Erzählungen nicht mag. Doch die Jungen verlangen nach den Geschichten, die man selbst erlebt hat. Nach Geschichte. Nun gut, das wird also mein erster Auftragsfilm, dachte ich. Doch wie lautet der Auftrag, was interessiert heute an der Affäre um einen verstockten ehemaligen Wehrmachtsoldaten, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Österreich und international eine Bilderbuchkarriere durchlief, bis hinauf zum Generalsekretär der UNO ins 38. Stockwerk des Glaspalasts mit Blick auf den Hudson?
Was bedeutete die Waldheim-Geschichte damals für mich selbst? Zum ersten Mal erlebte ich offenen Antisemitismus. Das war beängstigend und befreiend zugleich, weil der Judenhass endlich offensichtlich wurde und ich darauf reagieren konnte. Allzu lange hatte ich die Gemeinheiten von Jung und Alt allzu oft runter geschluckt, um mich in der Illusion zu wiegen, dazu zu gehören. Vielleicht soll es in dem Film ein persönliches Kapitel darüber geben, wie man sich als exotisches Objekt fühlte, das 1986 als Hochverräterin beschimpft wird und 1988 im sog. Bedenkjahr als Beweisstück für die Toleranz der anderen auf einem Podium sitzt.
1986 brach das Tabu endlich auf, als der Präsidentschaftskandidat Kurt Waldheim ganz unschuldig meinte, er habe im Krieg nur seine Pflicht getan – und damit einen Sturm im österreichischen Lügenkonsens entfachte. Denn, wenn er seine Soldatenpflicht in der Wehrmacht getan hatte und nicht als überfallener Österreicher in diese hinein gezwungen worden war, dann konnte mit der Opferstory der 2. Republik irgendwas nicht stimmen. Dank Waldheim riss der Heimatfilm. Eine aufregende Phase begann: Zuerst gab es fast täglich neue Meldungen und Enthüllungen über die Vergangenheit des Kandidaten. Die Welt blickte auf Österreich und fragte sich zunehmend, warum sie sich so lange täuschen ließ. Wien wurde plötzlich wieder Weltstadt des Antisemitismus. Denn die mehrheitliche Reaktion der Wähler hieß „Jetzt erst recht“ und „Wir wählen wen wir wollen“. Die sog. Ostküste wurde beschimpft. Waldheim wurde gewählt.
Womit keiner der Zündler vom Schlage der ÖVP-Politiker Alois Mock und Michael Graff gerechnet hatten, die zum Teil bewusst Antisemitismus als Wahlhelfer einsetzten, zum Teil nichts gegen diesen Nebeneffekt einzuwenden hatten, war, dass der Präsident wegen seiner Zugehörigkeit zur Heeresgruppe E vom US-Justizministerium auf die watchlist gesetzt wurde und nicht in die USA einreisen durfte, was dazu führte, dass er von keinem Staat der westlichen Welt eingeladen wurde und Österreich überhaupt fünf Jahre lang ziemlich isoliert dastand. Waldheim, der während des Wahlkampfs und danach auf neue Fakten und Vorhaltungen, er habe zwei wesentliche Jahre seines Wehrdienstes auf dem Balkan und in Griechenland verschwiegen, immer nur scheibchenweise reagierte, ist sozusagen der passive Held des Films. Eine individuelle Gestalt in ihrer Zeit und doch ein typisch österreichischer Mann ohne Eigenschaften.
Dreißig Jahre später stellten sich viele Fragen:
Wie kam es, dass der Wahlkampf Kurt Waldheims zu einem internationalen Skandal wurde? Wie wirkt dieser historische Moment weiter, als die Lüge von „Österreich als erstem Opfer“ in sich zusammen fiel, was einerseits zu befreiender Klarheit führte, andererseits der Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit eine neue Wende gab. Wieso wurde ein Nixon zum Rücktritt gezwungen, während in Österreich so gut wie nie jemand abtritt? Warum regte den Jüdischen Weltkongress just die Person Waldheim so auf? Und wie manifestiert sich der typisch österreichische von Neid und Ressentiment geprägte Antisemitismus, der bereits 1938 die deutschen Nazis in Erstaunen versetzte und der nach wie vor abrufbar scheint bzw. sich in Form von Rassismus Luft verschafft.
Als ich im Frühjahr 2016 mit der Materialsuche begann, verwirrte mich sehr schnell die für mich neue Arbeit mit bereits existierendem Material, das noch dazu aus TV-Anstalten stammt. Bei selbst gedrehtem Material ist es schwierig, sich von der Drehsituation und den eigenen Erinnerungen zu lösen, um eine distanzierte Haltung zu finden. (Auch darum benötigt man einen Cutter, der nicht dabei war!) Archivmaterial und besonders TV-Material lässt vorerst mal kalt. Kalte Erinnerungsschnipsel, die seit der digitalen Revolution immer kürzer werden: Text-Messages statt Briefen, Clips statt Filmstreifen. Ich benötige Gespräche mit Archivaren und den Geruch der realen Orte, wo das Material zu sichten ist, um eine Beziehung zu diesem herzustellen. Und ich muss mich davor schützen, nicht in der Fülle von Banalitäten unterzugehen, mit denen das Fernsehen seine Sendezeit füllt, d.h. rasch entscheiden, was in den Kübel des Vergessens fallen soll, wie zum Beispiel das heute nur beschränkt interessante Hickhack zwischen ÖVP und SPÖ, wann und durch wen die Mitgliedschaft Waldheims bei der SA an die Öffentlichkeit drang. Dreht man selbst, dann macht man sich sein eigenes Bild von der Welt. Das gefundene Material zeigt ein Bild, das jemand anderer gemacht hat und wieder jemand anderer aufbewahrt hat, indem er es in eine Reportage oder einen Nachrichten-Beitrag einfügte. Wäre es eine bestimmte Person, also das Material eines bestimmten Filmers, ob Profi oder Amateur, so könnte ich seinen subjektiven Blick suchen und interpretieren. Hier jedoch handelt es sich um viele, zum Teil unmotivierte, gelangweilte, zum Teil suchende, ernsthafte Kameraleute und Journalisten, die den verschiedenen TV-Cuttern ihr Material lieferten. Und schließlich musste der gestaltete Beitrag in die Linie des Senders passen, in Österreich also in diejenige des staatlichen ORF. Was mir begegnet, ist der Standpunkt und Blick des Mediums TV in seiner nationalen Ausprägung.
Thomas Elsässer spricht in seinem Text zu „Recycled Cinema“ über die Ethik der Aneignung. Es sei notwendig, dass wir uns die Bilder, die anderen gehörten, in einem Prozess der Postproduktion aneignen, die Frage sei allerdings, wie das geschieht. Waldheim ist ein reiner Postproduktionsfilm. Ich montiere einen Film aus TV-Material, aber gegen die nivellierende, zensurierende oberflächlich illustrierende Weltsicht des TV. Wie ist das zu möglich? Wie verhalte ich mich zu dem Archivmaterial? Zu den Auslassungen? Es gibt archivtechnisch begründete Lücken. Rohmaterial wird bei keinem Sender aufbewahrt. Beim ORF werden lediglich die zugespielten Sendebänder archiviert, nicht jedoch die Ansagen der Sprecher im Nachrichtenstudio. Zum Glück schleichen sich auch in die Regeln der digitalen Welt Fehler ein, so dass dann und wann ein Moderator bei seiner Arbeit zu sehen ist, was aufschlussreiche Auskünfte über Geschlechterpräsenz, Mode, Sprechweise und Graphik der Zeit gibt. Und es gibt inhaltliche Lücken. So wurde der Widerstand von Teilen einer sich gerade bildenden Zivilgesellschaft gegen Waldheim kaum im ORF reflektiert. Die Gründung des Republikanischen Clubs „Neues Österreich“ wurde verschwiegen, prominent besetzte Demonstrationen in Begleitung des von Alfred Hrdlicka nach einer Idee von Kuno Knöbl geschaffenen Holzpferdes nur in Sekundenlänge gesendet. Elfriede Jelinek als Rednerin bei Kundgebungen ist kein einziges Mal zu sehen. Lediglich in den „Club 2“ wurde dann und wann eine Alibifigur aus der Riege kritischer Zeitgenossen eingeladen, wie zum Beispiel Erwin Ringel, Doron Rabinovici, Peter Turrini und Daniel Charim. Erst 1988 wurde ausführlich über die Mahnwache am Stephansplatz berichtet. Inzwischen hatte ein deutlich sichtbarer Lernprozess unter den Journalisten statt gefunden, die sich einerseits über Waldheims Verstocktheit ärgerten, andererseits aber auch begannen, die westlichen Medien nicht allein als Feinde zu begreifen, sondern ihre Argumente nachzuvollziehen. Besonders gut sichtbar ist die Veränderung Peter Rabls von seiner Einleitung eines Inlandsreports, in der er den Jüdischen Weltkongress herablassend als „kleine Privatorganisation mit hochtrabendem Namen“ bezeichnet bis zu einem sehr kritischen Interview mit Waldheim zwei Jahre später. Die aufgebrachte Volksgemeinschaft mit ihren Leitmedien „Kronen-Zeitung“ und „Presse“ hatte sich weder beruhigt noch geändert, wie sich unter anderem bei der Premiere von Thomas Bernhards „Heldenplatz“ zeigte, wo Wutbürger eine Fuhre Mist vor dem Burgtheater abluden.
Während ich im ORF-Archiv vergraben bin, wird in Österreich wieder mal ein Präsident gewählt. Der Kandidat der FPÖ Norbert Hofer bekommt im ersten Wahlgang am 24. April 2016 34 % der Stimmen. Der Grüne Alexander van der Bellen erreicht Platz zwei. Die Stichwahl gewann van der Bellen knapp. Die Kandidaten der ehemaligen Großparteien fallen aus dem Rennen. Das Zweiparteiensystem der 2. Republik zerbröselt zugunsten der Rechten. Verändert Hofers Erfolg die Perspektive auf die Waldheim-Affäre? Bei Waldheim ging es um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um einen schon längst notwendigen Perspektivenwechsel, der schließlich zu dem offiziellen Bekenntnis zur Mitverantwortung Österreichs am Nationalsozialismus führte. Die Ideologie Hofers ist die Kehrseite der Medaille. Er nimmt Elemente aus der NS-Vergangenheit, um die Zukunft zu gestalten. 1986 begann die Erosion der Parteigebundenheit, die sich jetzt deutlich zeigt. Aus Solidarität mit dem ehemaligen Soldaten wählte die Kriegsgeneration quer durch die Parteien Waldheim. Und die sich unverstanden und benachteiligt fühlenden Nachgeborenen ebenso. Nicht zufällig begann der Aufstieg der FPÖ mit Haider in eben jenem Frühjahr 1986 und hält bis heute an. Nicht weil er ein Nazi ist, wird ein Hofer gewählt, sondern weil es viele nicht stört, dass er einer ist.
Angeblich dauert es hundert Jahre bis die Ereignisse Geschichte werden. Ich jedenfalls kann in Österreich anscheinend keinen Film machen, ohne von Nazirülpsern eingeholt zu werden. Das erste Mal, 1986 arbeitete ich an einem Film über jüdische Identität. Die Waldheim-Affäre brach aus und die Vergangenheit herein, als „Die papierene Brücke“ fast fertig geschnitten war. Einige Szenen aus meinem selbst gedrehten Material fanden noch Platz in dem Film. Das zweite Mal – 1999 – filmte ich meine Straße. Da brach die schwarz-blaue Regierung herein, wieder wurde die NS-Vergangenheit aufgewühlt und in die Diskussionen im Kaffeehaus in meiner Straße und somit in meinen Film „homemad(e)“ gespült. Jetzt mache ich einen Film über die versuchte Bewältigung jener Vergangenheit, aber nein, Hofer droht, gefolgt von Strache. Wie damals geht es um einen Kampf zwischen Rationalem und Irrationalem. Damals kursierten Verschwörungstheorien über den Einfluss der jüdischen Lobby, heute über die Verschwörung des globalen „Systems“ gegen ihr Opfer, die in der Heimaterde verwurzelte FPÖ, die bereit stünde, die Volksgemeinschaft gegen die barbarischen Ausländerhorden zu verteidigen.
Befragt man das Material lange genug, dann beginnt es langsam zu antworten. Nachdem Dieter Pichler und ich ca. 150 Stunden österreichisches und internationales Material gesichtet und auf sechs Stunden reduziert hatten, verschob sich der Fokus meiner Interessen auf Themen, die aus dem historischen Material selbst heraus zu lesen sind. Die Magie des Schneideraums tut auch diesmal ihre Wirkung und überrumpelt alle Papierkonzepte und Hypothesen mit überraschenden Erkenntnissen. Das „optische Unbewusste“ scheint zum Vorschein zu kommen, das letztendlich weder dem Macher noch dem Betrachter zugeschrieben werden kann, sondern zum Medium selbst gehört. Wiederholen und durcharbeiten - so definierte Freud den Weg der Analyse. Auf der Couch mag sie Jahre dauern, im Schneideraum tun Abgeschlossenheit und Dunkelheit ihre Wirkung in intensiven Monaten. Auch bei der Montage geht es jedoch ums Loslassen, das heißt einerseits um den Abschied vom ursprünglichen Konzept, und mehr noch darum, Intuition und Instinkt zuzulassen, um diese danach intellektuell zu analysieren. Schließlich liegt eine Hauptattraktion der audiovisuellen Medien in der Oberfläche der Gestik und Mimik, der Stofflichkeit der Dekors und Moden. Aus der wiederholten Betrachtung der Oberfläche können neue Erkenntnisse entstehen oder alte ins Blickfeld rücken. Zum Beispiel: It’s a man’s world. Alle wesentlichen Protagonisten der Waldheim-Affäre waren Männer. Väter und Söhne. Da ist der biologische Sohn Waldheims Gerhard, der sich von seiner Arbeit karenzieren lässt, um den Vater bei einem Hearing vor dem US-Kongress und in den amerikanischen Medien zu verteidigen. In der Waldheimat spalten sich die großen Söhne in zwei Gruppen, die erstmals ihre Haltung zu den Vätern laut kundtun: Da Jörg Haider, der die Kriegsgeneration verteidigt, dort Peter Kreisky, der sie anklagt, die 2. Republik auf einer Lüge aufgebaut zu haben. Auch die Ankläger in New York sind Söhne. Söhne der verfolgten Juden. Sie verteidigen die Erinnerung an ihre Väter und kritisieren gleichzeitig die amerikanischen Juden der Kriegsgeneration, die zu wenig für die verfolgten europäischen Juden getan hätten. Aus heutiger Sicht stellt sich die Waldheim-Affäre als Krieg um die Erinnerung dar.
Der Film wird die Jahre 1986–1988 umspannen, vom Beginn der Affäre bis zum Bericht der Historikerkommission, die Waldheim zwar von persönlicher, nicht jedoch von moralischer Schuld freisprach, indem sie ihm „konsultative Unterstützung von Unterdrückungsmaßnahmen“ nachwies. Er soll das individuelle und kollektive Bewusstsein zusammen führen, um zu zeigen, wie sich tiefer liegende Bewusstseinsschichten ihren Weg bahnen. Dies geschah durch regelmäßige Ausbrüche eklatanter NS-Kontinuitäten wie den Affären Borodajkewycz (1965), Kreisky-Peter-Wiesenthal (1975) oder Frischenschlager-Reder (1985), die zu Skandalen ohne längerfristige Folgen führten, weil die Zeit noch nicht reif für einen Paradigmenwechsel war.
Fernsehsender werfen einen nationalen Blick auf die Ereignisse. 2016 gestaltete der ORF eine Sendung zu der Affäre, welche aus rein österreichischer Sicht zurück blickt. Kein Protagonist der damaligen internationalen Gegenseite kam zu Wort, wohl aber, dem Zeitgeist geschuldet, einige einheimische Waldheim-Kritiker von damals. Britische, US-amerikanische, französische und andere Beiträge zu dem Thema unterscheiden sich naturgemäß stark von den österreichischen, aber auch von einander. Nicht allein in den moralischen Standards, sondern auch in der Präsentation durch Korrespondenten und Moderatoren. Auch wenn alle sich über die 122 Blaskapellen, die in Waldheims Wahlkampf eingesetzt waren, amüsieren, sind die Unterschiede in den jeweiligen Referenzen bezeichnend: Die Briten zitieren gerne Graham Greens Film „Der dritte Mann“, die Franzosen mögen Freud und die Amerikaner haben keine Zeit für Zitate.
Im September 2016 schreibt der Economist unter dem Titel „Art of the Lie“: „Post-truth politics is more than just an invention of whingering elites who have been outflanked. The term picks out the heart of what is new: that truth is not falsified, or contested, but of secondary importance. Once the purpose of political lying was to create a false view of the world. The lies of M Trump do not work like that. They are not intended to convince the elites, whom their target voters neither trust nor like, but to reinforce prejudices.“
Ist „post-truth“ oder postfaktische Politik wirklich neu? Bedienten nicht Waldheim, Mock et.al. auf ihre Weise mit der sturen Weigerung, Dokumente als solche zu akzeptieren, der permanenten Wiederholung, wie „anständig“ sich der Kandidat im Krieg verhalten hätte, mit dem Wecken von Ressentiments gegen die angebliche Macht der Juden und dem Spiel mit dem Antiamerikanismus die unterdrückte diffuse Wut seiner Wähler? Es ging nicht um die Wahrheit, d.h. um die Erörterung der Kriegszeit des Oberleutnants Waldheim, sondern um die gefühlte Wahrheit, von den ehemaligen Siegern gedemütigt worden zu sein. Bei einer Straßenbefragung sagt ein junger Mann: „Unser Pech war, dass wir den Krieg verloren haben“. Voller Genugtuung, im Recht zu sein, da ja diesmal in der verqueren Logik dieser Menschen die Gegenseite den Krieg begonnen hätte, indem sie vierzig Jahre alte Dokumente ausgrub, suhlte sich die Mehrheit der Bevölkerung in einem wohligen Gemeinschaftsbad und zeigte mit Fingern auf die Verräter. Dünn ist die Schicht, die sich Zivilisation nennt. Auch das zeigte sich damals. Ganz plötzlich, von heut auf morgen, war sie weg. Und nackt starrten die Fratzen der Boshaften, der Wütenden uns an. Vielleicht war der Waldheim-Wahlkampf postfaktische Avantgarde.
Was sich damals lokal begrenzt im ach so rückschrittlichen Österreich zutrug, hat seinen Globalisierungsschub erlebt. Die damals zumindest diffus definierte Wut auf „die Ostküste“, die Amerikaner und den Westen richtet sich jetzt gegen den Großteil der Erdbewohner: Gegen die Reichen und (daher) den Fremden Wohlgesinnten ebenso wie gegen alle, die nicht so sind und so leben wie „wir“. Dazwischen zerrieben werden die Armen und die Verfolgten und Sonntagsreden sind ebenso schal wie damals, als diejenigen, die sich mit dem Antisemitismus ins Bett legten, um die Wahl zu gewinnen, nicht aufhörten vor eben jenem zu warnen und zu betonen, wie sehr doch „unsere jüdischen Mitbürger“ zu „uns Österreichern“ gehörten. Waldheim – der Ahnherr der Trump, Le Pen, Wilders und Hofer. Ob Politik der Gefühle, wie Josef Haslinger damals seine Analyse der österreichischen Zustände nannte oder Post-Truth - die Lüge hat Hochkonjunktur.
17. Oktober 2016